Rousseau und die Präromantik: Natur und Gefühl

Rousseau und die Präromantik: Natur und Gefühl
Rousseau und die Präromantik: Natur und Gefühl
 
Durch Zufall stieß Jean-Jacques Rousseau 1749 auf eine Fragestellung der Akademie von Dijon, die sein Leben radikal verändern sollte: »Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Verfeinerung der Sitten beigetragen?« Zu diesem Zeitpunkt bahnte sich für ihn eine Karriere als Musiker und Schriftsteller an, die der Vielfalt seiner Begabungen entsprach. In Paris hatte er Zugang zu den intellektuellen Kreisen gefunden, und Diderot hatte ihm die Artikel zur Musik in der »Encyclopédie« anvertraut. Doch die Preisfrage der Akademie wurde für ihn zu einem Moment der persönlichen Erleuchtung, zu einem Wendepunkt seines Lebens: »Im Augenblick dieser Lektüre sah ich eine andere Welt und ich wurde ein anderer Mensch. .. Alle meine kleinen Leidenschaften wurden erstickt von der Begeisterung für die Wahrheit, die Freiheit, die Tugend.«
 
Aus dieser unmittelbaren Erschütterung heraus schrieb er eine Abhandlung, die prämiert wurde, obwohl sie sicher nicht den Intentionen der Akademie entsprach. Sie stellte den durch Vernunft und wissenschaftliche Erkenntnis bewirkten Fortschritt infrage und formulierte erstmals die These, die sein Werk wie ein Leitmotiv durchziehen sollte: Der Mensch ist ursprünglich gut und frei, aber er wird durch die Gesellschaft verdorben. In der Abhandlung »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« präzisierte er seine Überlegung, dass der Wilde im Einklang mit sich selbst und der Natur gelebt habe und dieser Zustand durch die Eigentumsbildung und die damit verbundenen sozialen Gesetze zerstört worden sei.
 
Rousseaus Kritik an der modernen Zivilisation ist kein Plädoyer für die Rückkehr zur Primitivität, wie sein Gegner Voltaire glauben machen wollte. Die Bedeutung der Gesellschaft für das Leben des Einzelnen stellte er nicht infrage. In seinem Roman »Émile, oder über die Erziehung« formulierte er das pädagogische Ziel, den Heranwachsenden nach einer seiner natürlichen Veranlagung und seinen Entwicklungsstadien angemessenen Ausbildung in das Gemeinschaftsleben einzubinden. Aber er wollte mit seiner Zivilisationskritik darauf aufmerksam machen, dass ein Leben, das sich immer mehr von seinen Ursprüngen entfernt, den Menschen sich selbst entfremdet und unglücklich macht. Die Überlegungen Rousseaus beschäftigten allgemein die Philosophie seiner Zeit, die sich des Widerspruchs zwischen optimistischem Fortschrittsglauben und Wirklichkeit durchaus bewusst war. Neu aber war der Ton der Betroffenheit und inneren Anteilnahme - eine Empfindsamkeit, die sich auch im Zeitalter der Vernunft ihre Rechte suchte.
 
In dem Briefroman »Julie oder die neue Heloise« gelang es Rousseau, seine philosophischen und gesellschaftkritischen Überlegungen, die er aus den unterschiedlichen Perspektiven der Briefpartner diskutiert, mit der Geschichte der unerfüllbaren Liebe zwischen Julie und ihrem Lehrer Saint-Preux zu verbinden. Im Vorwort macht Rousseau seine moralisch-didaktische Intention deutlich, ein Vorbild für ein tugendhaftes Leben zu entwerfen, das die Leidenschaft besiegt. Die Leser waren jedoch vor allem fasziniert von der differenzierten Darstellung der beunruhigenden Gefühlswelt der Liebenden - ihrem spontanen Empfinden und ihren tragischen Verwicklungen. Das Werk entfaltete so seine Wirkung aus der Spannung zwischen Reflexion und Sensibilität, die Rousseau zum Vermittler zwischen Aufklärung und Romantik machte. Vor allem durch seine Landschaftsbeschreibungen, die zum Spiegel der inneren Befindlichkeit der handelnden Personen werden, erwies er sich als Erneuerer des literarischen Ausdrucks.
 
Unter unmittelbarem Einfluss der Gesellschaftskritik Rousseaus entstand der Roman »Paul und Virginie« (1789) des Naturforschers Bernardin de Saint-Pierre, der den Konflikt zwischen Natur und Zivilisation naiv, aber höchst wirkungsvoll inszeniert. Er schildert die tragische Liebe der Naturkinder Paul und Virginie, die von ihren Müttern nach den pädagogischen Prinzipien des »Émile« erzogen wurden. Doch die soziale Utopie zerbricht an der Konfrontation mit der Gesellschaft. Der Autor verarbeitete in dem Roman seine auf zahlreichen Reisen erworbenen Kenntnisse fremder Länder und griff für seine Kritik an der Zivilisation auf den Mythos des guten Wilden zurück. Das Publikum nahm dieses Werk, das sensibel das Zusammenspiel zwischen Seelenzustand und Naturphänomenen zeichnet, euphorisch auf. Hier manifestierte sich eine Veränderung des literarischen Geschmacks, die sich schon in der Reaktion auf die von Macpherson 1762 und 1763 veröffentlichten vorgeblichen Übersetzungen der Dichtungen des keltischen Barden Ossian angedeutet hatte. Diese waren indes weitgehend freie Nachdichtungen Macphearsons, wie sich Anfang des 19. Jahrhundert herausstellte. Sie wurden als Ausdruck einer Volkspoesie rezipiert, deren formale Schlichtheit und tiefer Empfindungsreichtum einen weiteren Gegenpol zum Rationalismus der Aufklärung bot. Düstere Naturstimmungen, melancholische Reflexionen und ein auf natürlicher Heldenhaftigkeit basierender Heroenkult ließen Geheimnis und Andersartigkeit anklingen und faszinierten dadurch die an klassisch-antiken Modellen geschulten Leser.
 
Ein Gespür für das Bedürfnis nach Erneuerung der französischen Literatur, die sie in den Fesseln der klassischen Regelpoetiken gefangen sah, entwickelte auch Madame de Staël - Kosmopolitin, Europäerin und überzeugte Anhängerin der republikanischen Ideen der Französischen Revolution, die sich durch ihren entschiedenen Kampf um Liberalität und Freiheit den Hass Napoleons und damit viele Jahre der Verbannung aus Paris einhandelte. Diese Zeit nutzte sie für Reisen, die sie in ihren literarischen Essays und Romanen verarbeitete. In der deutschen Romantik erkannte sie ein für die Franzosen nachahmenswertes Beispiel für eine Literatur, die auf Empfindsamkeit, Intuition und Melancholie basiert, die durch die Besinnung auf ihre nationalen und religiösen Ursprünge zu veränderten Formen des Ausdrucks findet. In ihrem Essay »Über Deutschland« (1810) untersuchte sie Literatur und idealistische Philosophie in ihrer Abhängigkeit von den natürlichen Lebensbedingungen und entwarf das Ideal des empfindsamen, tiefsinnigen Deutschen, das über Jahrzehnte das Deutschlandbild der Franzosen prägte.
 
Doch die Veränderung, für die Madame de Staël sich wesentliche Impulse aus der Begegnung mit der Kultur des Nachbarlandes erhoffte, hatte auch in Frankreich längst eingesetzt. Chateaubriand hatte 1802 in seiner Apologie des Christentums auf die sinnliche Kraft eines über alle Rationalität erhabenen Glaubens hingewiesen und mit der Würdigung der kulturellen Leistungen, die aus ihm hervorgingen, zu einer Neubewertung des Mittelalters beigetragen. Aber vor allem mit »René« traf er das Lebensgefühl einer Generation, die sich an Rousseau und Saint-Pierre inspiriert hatte und von den politischen Ereignissen nach der Revolution enttäuscht war. Ursprünglich eingebettet in den »Geist des Christentums«, wo die Erzählung verdeutlichen sollte, dass ein Leben in christlicher Nächstenliebe René helfen kann, seinen allgemeinen Weltschmerz zu überwinden, bot sie den Lesern eine Identifikationsfigur, die das Leiden an sich und der Gesellschaft verkörperte. In einer gefühlsbetonten, pathetischen Sprache, die der melancholischen Grundstimmung der Zeit entsprach, entwarf Chateaubriand in »René« den Typus des romantischen Helden, der die Sehnsucht nach dem Unendlichen und die Einsicht in die Begrenztheit der Realität als quälenden Widerspruch erlebt.
 
Dr. Elisabeth Lange
 
 
Alt, Peter-André: Aufklärung. Stuttgart u. a. 1996.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 Köhler, Erich: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur, herausgegeben von Henning Krauss. Band 5: Aufklärung. Stuttgart 1984—87.

Universal-Lexikon. 2012.

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